Wie üblich, klapperten in der Kantine um die Mittagszeit die Tabletts. Die Stühle quietschten leise auf dem Boden, das Besteck klirrte, die Menschen redeten, lachten, riefen. Es roch nach Auflauf, Fritteuse und bitterem Krankenhauskaffee. An einem der seitlichen Fenster saß an einem Zweiertisch Dr. Kaan, tief über sein reichlich gefülltes Tablett gebeugt und die Backen voll wie ein Hamster kurz vor dem Winterschlaf. Currywurst, Pommes, zwei Brötchen und ein Quark mit Kirschen, obendrauf ein Apfel. Letzter ein reines Alibi. Gretchen hingegen schob lediglich ihr Tablett mit demonstrativer Leere vor sich her. Der Tag lag ihr schwer im Magen – Appetit: Fehlanzeige. Ausschließlich eine Banane, eine kleine Glasschüssel mit Schokopudding und ein Glas Mineralwasser hatte sie sich ausgewählt. Sie setzte sich ungefragt auf den leeren Stuhl gegenüber vom Mehdi. Ihre Gabel tippte emotionslos in die cremige Masse, ohne dass sie einen Bissen zu sich nahm. „Ist das jetzt ’ne neue Diät oder hast du bloß keinen Hunger, weil dein Gewissen schwer im Magen liegt?“ versuchte Mehdi halb ironisch, halb verletzt. Gretchen seufzte. „Weil ich enttäuscht bin. Von dir.“ Er schob sich einen Pommes-Knäuel mit Mayonnaise in den Mund. „Na dann kann ich ja aufatmen. Ich dachte schon, du hast was Ansteckendes.“ „Hör auf, dich rauszuwinden, Mehdi.“ Ihre Stimme war ruhig, aber durchdringend. „Du hast Lilly benutzt, um Marc eins reinzuwürgen. Und mich gleich mit.“ Mehdi schluckte. Etwas zu schnell. Er verschluckte sich, hustete kurz, griff zum Wasser. „Das ist… eine ziemliche Unterstellung.“ „Ist es nicht. Du hast ihr gesagt, sie solle Marc erzählen, dass wir im Musical waren. Und du wusstest genau, dass ich’s ihm nicht gesagt hatte. Du wolltest, dass er es falsch versteht.“ Er hielt inne, sah sie zum ersten Mal wirklich an. Die Gabel mit der Currywurst verharrte in der Luft. „Ich habe Lilly nicht gezwungen. Ich habe nur... na ja, ein bisschen nachgeholfen, sagen wir mal.“ „Mehdi!“ Gretchens Stimme wurde fester. „Sie ist ein Kind. Sie wollte dir gefallen. Und du hast ihre Loyalität für deine Eifersucht missbraucht.“ Seine Schultern sackten ab. Der Pommesberg schien plötzlich weniger einladend. „Ich… ich hatte halt gehofft, es wäre nicht so offensichtlich.“ „Aber das war es“, erwiderte Gretchen und atmete tief durch. „Du bist ein guter Vater, Mehdi. Aber bitte… sei kein schlechter Mensch. Nicht für sie. Nicht für mich.“ Er nickte. Langsam. Die Reue stand in seinem Gesicht. „Es tut mir leid, Gretchen. Wirklich.“ In diesem Moment piepste es schrill in Gretchens Kitteltasche. Reflexartig zog sie den Pager hervor und las die Anzeige. Notfall, OP 2. „Ich muss los“, erklärte sie hektisch. Sie erhob sich und schnappte sich noch die Banane. Der Schokopudding blieb unangerührt stehen. „Pass auf dich auf“, murmelte Mehdi leise, aber sie hörte es noch.
Der Flur roch nach Desinfektionsmittel, das Licht war grell, die Schritte hallten auf dem Linoleumboden. Gretchen wechselte in den OP-Trakt, wusch sich die Arme und Hände und ließ sich in fließender Routine von der OP-Schwester in den grünen Kittel und die Latexhandschuhe helfen. Ausgestattet mit OP-Haube und Mundschutz kam sie Sekunden später im OP-Saal an. Dort wartete bereits Dr. Meier, die Stirn unter seiner Haube leicht gerunzelt, das Skalpell in der Hand, den Blick fokussiert auf das sterile Feld vor sich. „Na endlich, Haasenzahn. Die kaputte Leber wartet nicht ewig.“ „Manche Dinge im Leben schon“, entgegnete sie ruhig, stellte sich an die gegenüberliegende Seite des OP-Tischs und ließ sich das Instrument reichen. Ihre Stimme war ruhig und neutral, aber sie konnte fühlen, wie sich ein zarter Strom zwischen ihnen aufbaute – nicht feindlich, nicht vertraut, einfach… gespannt. Die Luft war steril, die Bewegungen routiniert – doch zwischen ihnen flimmerte es wie unter Hochspannung. Keine Worte. Nur Blicke. Hände. Instrumente. Und da war mehr. Ein Blick – direkt, unerwartet, entwaffnend. Nur ein Sekundenbruchteil, durch Maske und Haube. Doch sie las ihn klar: „Ich vermisse dich.“ Ihr Herz setzte einen Moment aus. Und sie wusste, seines wahrscheinlich auch. Der Eingriff verlief weiter ruhig, präzise, fast mediativ – eine Willensleistung zwischen zwei Menschen, die wussten, dass es mehr als nur Blutgefäße und Gewebe zu verbinden gab. Nach der Operation zog sich Gretchen in den Waschraum zurück. Sie stand am Waschbecken, strich sich das Haarnetz vom Kopf, atmete durch. Als sie die Hände zum Trocknen hob, öffnete sich die Tür. Marc trat ein. „Gute Arbeit“, sagte er anerkennend. Sie sah ihn im Spiegel an. „Danke.“ Eine Pause. Dann, leiser: „Ich war nicht sauer, weil du mit Mehdi im Musical warst… und mit Lilly. Ich war sauer, weil du es mir nicht gesagt hast. Du hast mir nicht vertraut.“ Sie drehte sich zu ihm hin. „Doch, ich habe dir vertraut. Ich wollte halt keinen Streit. Ich wollte dich schützen. Uns. Und irgendwie… habe ich’s total vermasselt.“ Er trat näher. „Du hast gar nichts vermasselt. Ich hätte dir einfach vertrauen sollen.“ Sie sah zu ihm hoch. Ihre Augen waren müde, aber ehrlich. „Und ich hätte dir einfach sagen sollen, was los ist.“ Ein langer Moment. Dann hob er die Hand, ganz vorsichtig, strich ihr eine lose Strähne aus dem Gesicht. „Also… wieder auf Anfang?“ „Wieder auf Anfang“, wiederholte sie leise und mit einem schwachen Lächeln. Diesmal war es kein Rückschritt. Es war ein neuer Schritt nach vorne. Er lächelte ebenfalls. Und zum ersten Mal seit Tagen war da nicht nur Spannung. Da war auch Frieden. Und ein kleines, leises Versprechen.
Als sie später in das Stationszimmer kam, stand das kleine Glasschälchen mit dem Pudding auf dem Tisch. Unangerührt. Sie nahm einen Löffel – und endlich einen Bissen.
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