Ich könnte schreien vor Glück! Zwanzig Jahre, ein Monat und fünfzehn Tage nach unserer ersten Begegnung, hat Marc Meier mir endlich seine Liebe gestanden. Mein Traum ist endlich wahr geworden...
Mit einem Lächeln schloss Gretchen ihr Tagebuch und sah auf den friedlich schlafenden Marc neben sich. Der Tag war lang gewesen, doch er hatte ihr so viel geschenkt. Zum ersten Mal wusste sie sicher, was er für sie empfand.
Und überhaupt: Es lief gerade perfekt zwischen ihnen. Keine Mutter, die sie mit ihren Fragen zu ihrer Beziehung ständig nervte. Kein Vater, der Marc mit seinen Blicken und Worten zur Rechenschaft zog, sobald sie auch nur eine Träne wegen ihm vergoss. Keine Elke, die ihm in den Ohren lag, dass sie nicht gut genug für ihn wäre... und keine Gabi, die in Berlin wahrscheinlich längst wieder eine Intrige gegen sie spann.
Mit seiner Liebeserklärung hatte Marc heute das Fundament für ihr gemeinsames Leben gelegt. Das Haus, das sie zusammen darauf bauen würden, sollte ihre Liebe unerschütterlich machen – und vielleicht könnte es ihm sogar helfen, endlich mit den Schatten seiner Vergangenheit abzuschließen. Ja! Ihre Zukunft sah rosig aus!
* * *
Sonnenstrahlen kitzelten seine Nase. Langsam blinzelte Marc und lauschte in die Stille. Noch war alles ruhig. Eine blonde Locke lag direkt vor seinem Gesicht. Er atmete tief ein – ein Hauch von Vanille stieg ihm in die Nase und ließ ein warmes Kribbeln durch seinen Bauch wandern. Sanft rückte er näher an Gretchen heran und schlang einen Arm um sie. Ihr gleichmäßiger Atem beruhigte ihn, und erneut sog er den zarten Duft ihres Haares ein. Mit einem leisen Seufzen schloss er die Augen – und glitt zurück in den Schlaf.
„Gib dir keine Mühe! Bald wird sie merken, was für ein schlechter Mensch du bist!“ Marc riss die Augen auf. Wer hatte das gesagt? Mit pochendem Herzen fuhr er hoch und drehte den Kopf in alle Richtungen. Doch außer ihnen beiden war niemand da. Die Morgensonne fiel durch das Fenster, alles war friedlich – als wäre nichts geschehen. Er atmete schwer aus, schloss die Augen und massierte sich den Nasenrücken. Zum Glück schien Gretchen nichts bemerkt zu haben.
Er stand auf, griff nach seinen Zigaretten und trat vor die Hütte. Der erste Zug brannte. Der zweite beruhigte. Langsam blies er den Rauch aus und ließ seinen Blick über den noch verlassenen Dorfplatz schweifen. Zehn Tage hatte er Ruhe vor ihm gehabt. Zehn Nächte hatte er sich nicht gewagt, in seine Träume zu schleichen. Doch selbst hier, am anderen Ende der Welt, ließ er ihn nicht los. Er war kein schlechter Mensch, obwohl er ihm das über Jahre hinweg eingeimpft hatte, um ihn klein und schwach zu halten. Es musste aufhören. Endgültig.
Das monotone Dauerpiepen des Weckers riss Gretchen aus ihrem Schlaf. Als sie ihre Augen öffnete, war das Bett neben ihr leer. Kein Marc. Nur die kalte, zerwühlte Seite, auf der er hätte liegen sollen. „Schade...“, dachte sie. Gerade nach so einem Tag wie gestern hätte sie sich ein gemeinsames Aufwachen mit Kuscheln und Küssen gewünscht. Aber nein natürlich – stattdessen war er draußen. Mit seinen Zigaretten. Sie seufzte. Seitdem er hier war, hatte sich sein Konsum deutlich erhöht. Sie schob es auf die fehlende „Auslastung“ hier und hoffte, dass sich das in Berlin wieder normalisieren würde. Schließlich kosteten Zigaretten dort das Fünffache. Ganz aufhören würde er wohl nicht. Das wusste sie. Marc brauchte das Nikotin, um im hektischen Krankenhausalltag herunterzukommen – auch wenn er damit kein gutes Vorbild für seine Patienten war.
Marc trat ein, die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Sein Kuss war flüchtig, fast mechanisch. Der Geruch von Rauch hing an ihm wie ein Schatten. Er schien angespannt. Hatte es etwas mit gestern zu tun?
Sie musterte ihn. „Alles okay?“ „Ja, habe nur leichte Kopfschmerzen“, erwiderte er, ohne sie anzusehen. „Willst du eine Ibu haben?“, fragte sie und stand auf, um ihre Tasche zu holen. Er seufzte. „Gretchen, wenn ich eine Schmerztablette wollte, hätte ich längst eine genommen. Heb dir dein Mitgefühl für deine Patienten auf.“ Sein Ton war unnötig scharf und sie biss sich auf die Lippe. Warum musste er nur immer so ruppig sein, sobald sich jemand um ihn sorgte? Langsam klappte sie die Tasche zu. Der Tag fing ja gut an! Zum Glück war sie gleich mit Mehdi unterwegs. Der war hoffentlich besser drauf…
Doch ihre Hoffnung wurde schnell zerstört. Am Frühstückstisch erwartete Mehdi sie bereits mit finsterer Miene. „Wo warst du gestern?“, blaffte er sie an, als sie an den Tisch trat. „Mit Marc unterwegs. Aber... das war dir doch bekannt?“ „Bekannt? Dass ich nicht lache! Gina hat mich darüber informiert! Du bist die verantwortliche Ärztin hier! Aber das scheint dich ja nicht besonders zu interessieren. Hauptsache, Marc bekommt, was er will!“ „Jetzt mach mal halblang, Mehdi!“, mischte sich Marc ein, der inzwischen ebenfalls am Tisch angekommen war. „Du bist doch nur sauer, weil Gretchen sich für mich entschieden hat!“ „Ach ja? Für einen beziehungsunfähigen, arroganten Macho, der sich nur für seine eigene Karriere interessiert? Oder warum hast du sie genötigt, vor Professor Helmut und seiner Gattin, die heile, perfekte Familie zu spielen? Für welchen potenziellen Arbeitgeber soll sie dir diesmal wieder behilflich sein?“, redete sich Mehdi in Rage. Im nächsten Moment packte Marc ihn am Kragen und drückte ihn gegen die Außenwand der alten Schlafbaracke. „Marc, lass ihn los! Marc!“, schrie Gretchen und trat zwei Schritte zurück. „Na los, schlag zu!“, provozierte ihn Mehdi mit einem breiten Grinsen. „Das wolltest du doch gestern schon!“ „Halts Maul!“, fauchte der Chirurg und verstärkte den Griff an seinem Kragen. Doch Mehdis Grinsen wurde nur noch breiter. „Okay, du willst nicht, dann eben ich!“ Die Faust traf Marc völlig unerwartet. Nun entlud sich auch seine aufgestaute Wut – auf Mehdi, auf seinen Vater, auf einfach alle, die ihn nicht in Ruhe lassen wollten. „Marc! Mehdi! Nein! Hört auf!“, kreischte Gretchen. „Auseinander! Sofort!“, schrie auch Gina, während sie Gretchen zurückzog. Erst als Issouf und Ibrahim die beiden Männer trennten, ließ sie Gretchen los. Während sich Gretchen Marc zuwandte, kümmerte Gina sich um die blutende Nase von Mehdi. „Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?!“ Auch Gretchen war außer sich. „Ihr seid solche Idioten!“, fuhr sie Marc an, während sie seinen lädierten Kiefer und die Platzwunde über dem linken Auge untersuchte. Doch der drehte den Kopf weg. „Lass mich! Ich kann das selbst.“ Gretchen seufzte und ließ von ihm ab. „Wie du willst!“ Sie wandte sich Gina zu. „Wie sieht es bei ihm aus?“ „Die Nase ist nicht gebrochen!“, antwortete die Chirurgin knapp. Gretchen griff nach ihrer Tasche. „Gut. Ich habe keine Zeit für diesen Blödsinn. Draußen gibt es Menschen, die wirklich meine Hilfe brauchen!“ „Ich begleite dich! Brauche nur noch einen Moment!“, rief Mehdi durch das Tuch, das er sich vor die blutende Nase hielt. „Nein, danke!“, erwiderte Gretchen kühl und gab Awa und Issouf das Zeichen zum Aufbruch. Als sie ihre Tasche im Laderaum des Bullis verstaute, stand plötzlich Marc hinter ihr. „Ich werde mich nicht entschuldigen! Dieser Kerl hat’s verdient!“ „Trotzdem ist Gewalt keine Lösung!“, widersprach sie ihm. „Aber da kann ich genauso gut gegen eine Wand reden. Hat den gleichen Effekt.“ Sie setzte sich neben Awa auf den Beifahrersitz. „Ich habe zu tun, Marc.“ Der Chirurg trat zurück und schloss stumm die Beifahrertür. Während er dem Fahrzeug nachsah, hatte er plötzlich wieder die Stimme seines Vaters im Ohr: „Ich sagte es doch – du bist und bleibst ein schlechter Mensch!“
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